AGEM - Arbeitsgemeinschaft Ethnologie und Medizin

Curare | Zeitschrift für Medizinethnologie | Journal of Medical Anthropology

Die Curare ist eine seit 1978 bestehende Zeitschrift für Medizinethnologie mit doppelblindem Begutachtungsverfahren, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Ethnologie und Medizin – AGEM. Beiträge werden auf Deutsch & English veröffentlicht. Der Wechsel in eine Open Access Journal erfolgte 2024 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Alle Ausgaben ab 2018 werden veröffentlicht auf www.curarejournal.org. Die Ausgaben von 1978–2017 sind abrufbar  auf dem Digitalisierungsserver des FID SKA - Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie unter www.evifa.de/curare-journal. Weiterhin wird eine Druckversion zur Verfügung stehen, die seit 2022 im Reimer Verlag Berlin erscheint.

Call for Papers – Abtreibung und Fehlgeburt: Narrative, Praktiken, Diskurse (Themenheft)

(Guest Editor: Dr. Florian Lützelberger, Otto-Friedrich-Universität Bamberg/University of Oxford)

In La condition fœtale (2004) beschreibt Luc Boltanski die Ambivalenz, die die kulturellen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit dem Fötus prägt: Er erscheint zugleich als unsichtbares medizinisches Objekt, als Projektionsfläche sozialer Erwartungen, als rechtlich normiertes Leben im Werden und als intimes Geheimnis. Diese Gleichzeitigkeit des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Privaten und Politischen, der Körpererfahrung und der gesellschaftlichen Zuschreibung strukturiert in besonderer Weise auch die Erzählungen und Praktiken rund um Schwangerschaftsabbruch und Fehlgeburt. Damit ist der Fötus nicht nur ein Grenzfall individueller Erfahrung, sondern auch ein paradigmatisches Objekt biopolitischer Regulierung im foucaultschen Sinn: An ihm verdichten sich Diskurse, die über Leben, Körper und Bevölkerung verfügen und so normative Ordnungen von Sexualität und Reproduktion herstellen. Zugleich eröffnet sich ein Spannungsfeld, in dem unterschiedliche Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten aufeinandertreffen: Während juristische und medizinische Diskurse den Fötus in Normen und Kategorien fassen, entstehen in autobiographischen, literarischen oder künstlerischen Darstellungen Räume, die sich der hegemonialen Logik entziehen. In diesem Sinne lassen sich viele Narrative über Abtreibung und Fehlgeburt auch als Formen dessen verstehen, was Lauren Berlant (2008) als counterpublics beschrieben hat: kommunikative Räume, in denen marginalisierte Erfahrungen artikuliert und gegen dominante moralische und politische Ordnungen in Stellung gebracht werden. Schwangerschaftsabbruch und Schwangerschaftsverlust erscheinen so nicht nur als medizinisch-rechtliche Fragen oder individuelle Schicksale, sondern als Schnittstellen, an denen sich Konflikte um Sichtbarkeit, Anerkennung und die Deutungshoheit über den gebärenden Körper verdichten.

Die gegenwärtigen Debatten um Abtreibung und Schwangerschaftsverlust zeigen die Dringlichkeit des Themas: die Rücknahme von Roe v. Wade in den USA, die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die französische Verfassung im Jahr 2023, aber auch die anhaltenden Kontroversen um die personhood des Embryos und die Regulierung von Reproduktion. Gleichzeitig sind es nicht nur juristisch-politische Auseinandersetzungen, die das Feld prägen, sondern auch literarische, künstlerische und autobiographische Zeugnisse. Das inzwischen vielleicht prominenteste Beispiel ist Annie Ernaux’ L’événement (2000), das in seiner kompromisslosen Nüchternheit ein zentrales Dokument feministischer Literaturgeschichte darstellt. Zugleich verdeutlicht der Text paradigmatisch, wie literarische Sprache Erfahrungen des Abbruchs und deren gesellschaftliche Verurteilung sichtbar macht und dabei die starke Individualität und Subjektivität solcher Erfahrungen prägnant hervorhebt.

Das geplante Themenheft möchte die Interferenzen und Spannungen zwischen Körper, Medizin, Recht, Ethik, Gesellschaft und Subjektivität in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch und Fehlgeburt in den Blick nehmen. Dabei sollen unterschiedliche zeitliche, kulturelle und soziale Kontexte berücksichtigt werden. Das Heft versteht sich als Plattform für eine interdisziplinäre Diskussion, die die lange medizinhistorische und anthropologische Dimension von Abtreibung und Fehlgeburt ebenso ernst nimmt wie deren aktuelle literarische, künstlerische und politische Aushandlungen. Ziel ist es, ein Panorama von Zugängen zu eröffnen, das die Schnittstellen von Körper, Wissen, Normen, Praktiken und Erfahrung in diesem hochsensiblen Feld sichtbar macht.

Wir laden Beiträge aus allen relevanten Disziplinen ein – unter anderem der Sozial- und Kulturanthropologie, Empirischen Kulturwissenschaft, Medizingeschichte, Medienwissenschaft, Soziologie, Hebammenwissenschaft, Humanmedizin, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Literatur- und Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte, Filmwissenschaft, Philosophie und Ethik, Gender Studies sowie den Medical/Health Humanities. Dabei sind auch interdisziplinäre Zugänge willkommen.

Weitergehende Informationen auf unserer Call for Papers-Seite.

Online First

2025

Current Issue

48 (2024) 1+2
Schwerpunkt: Gender und Medizin
Hrsg. von Barbara Wittmann und Alena Mathis

Der Schwerpunkt erforscht historisch gewachsene und nachhaltend wirkende geschlechtsspezifische Ungleichgewichte in unseren medizinischen Strukturen und deren Einfluss auf den alltäglichen Umgang mit Krankheit und Gesundheit. Die Beiträge schließen an Erkenntnisse von kritisch-feministischen Initiativen und der Frauengesundheitsbewegung an. Sie fragen danach, warum Menschen abhängig vom Geschlecht unterschiedlich krank werden und wie mit diesen Erkrankungen aufgrund spezifischer soziokultureller Prägungen umgegangen wird. Historische Entwicklungen werden nachgezeichnet und darauf aufbauend aktuelle Bedingungen genderbezogener Machtverhältnisse untersucht. Der Begriff der „Gender-Medizin“ soll marginalisierte Perspektiven in den Fokus zu rücken, um die Betrachtung des cis-männlichen Körpers als medizinisch-pharmazeutische Norm zu überwinden, und ein neues Verständnis und einen Umgang mit Ungleichheiten in der klinischen Versorgung zu erreichen. Dabei soll die eurozentrische Blickverengung (selbst-)kritisch reflektiert werden, um die selten thematisierten kolonialen Auswirkungen der „medizinischen Expansion“ zu beleuchten. Wie die Beiträge dieser Ausgabe zeigen, ist „Gender-Medizin“ in vielen Teilen des medizinischen Betriebs noch eine Utopie bzw. ein „Nicht-Raum“. Die Curare-Redaktion ist froh darüber – in Abwesenheit eines Ortes, an dem die Medizin so praktiziert wird, wie es sich die Autor*innen und Forschungspartner*innen wünschen –, zumindest einen Denk-Raum eröffnen zu können. Wir hoffen, dass damit die Weiterentwicklung der Medizin hin zu einem inklusiveren und gerechteren Projekt anstoßen werden.

Aktuelle Ausgabe

47 (2024) 1+2 | Gender und Medizin
					Ansehen 47 (2024) 1+2 | Gender und Medizin

Themenschwerpunkt hrsg. von Barbara Wittmann & Alena Mathis

Veröffentlicht: 2025-09-05

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