Das gezähmte Leben: Computer­basierte Wirkmacht radiologischer Befunddemonstrationen in der onko­logischen Sprechstunde

Das gezähmte Leben

Computer­basierte Wirkmacht radiologischer Befunddemonstrationen in der onko­logischen Sprechstunde

Autor/innen

  • Martin Kälin Kantonsspital Olten, Tumorzentrum

DOI:

https://doi.org/10.60837/curare.v45i1.1515

Schlagworte:

Radiologie, Technikgeschichte, Palliativmedizin, Leiblichkeit, Körpersoziologie, Unheilbarkeit, Doing Illness

Abstract

Mit Hilfe von Computertechnik haben sich radiologische Untersuchungsergebnisse seit den 1970er Jahren von diffusen, schwer interpretierbaren Röntgenprojektionen weiterentwickelt zu digitalen Repräsentationen, die sich auch Laien in ihrer anatomischen Sinnhaftigkeit erschließen können. Techniken wie Röntgentomographie, Magnetresonanz und Nuklearmedizin, deren Grundlagen über Jahrzehnte erforscht worden waren, wurden erst durch den Einsatz des Computers klinisch effektiv einsetzbar. Radiologisches Bildmaterial wird heute durch leichte digitale Verfügbarkeit auch den Patient*innen medizinischer Sprechstunden demonstriert. In langen asymptomatischen Verläufen von formal unheilbaren Krankheiten sind diese Bilder gelegentlich der einzige manifeste Aspekt der Krankheit. In ihrer zugespitzten graphischen Wirkmacht, die in digitaler Rekonstruktion und Präsentation wurzelt und im historischen Rückblick gesehen allein zur Erleichterung der ärztlichen Interpretation optimiert wurde, vermögen die Bilder eine Inkorporierung von krankmachenden Befunden in das leibliche Erleben zu vermitteln. Hierdurch prägen digitale Bilder als Artefakte die durch bessere Therapien immer länger werdende asymptomatische Phasen schwerer Krankheiten existenziell. Komplementär zu einem Bild von Philipp Ariès, der ein offen kommuniziertes sozial erlebtes Sterben bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts in einem assimilierten, einem gezähmten Tod enden sah, während er dem Tod in der Medikalisierung und damit einhergehenden sozialen Tabuisierung des Industriezeitalters als ver- wildert bezeichnete, soll an dieser Stelle die Frage nach dem Leben gestellt werden. Mittels klinischer Vignetten soll untersucht werden, ob der Computer durch die Wirkmacht scharfsichtig vorausschauender digitaler radiologischer Technologien in formal unheilbaren Krankheitssituationen, in denen das alltägliche leibkörperliche Erleben einer (vermeintlichen?) Gesundheit lange näher liegt als einer tödlichen Erkrankung, an assimilativen Prozessen teilhat, die in gewisser Weise nicht Krankheit oder Tod, sondern geradezu das Leben selbst zähmen.

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Veröffentlicht

2022-01-01 — aktualisiert am 2022-01-01

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